Die Nahtzugabe – was ist dran und warum ist sie besonders wichtig, wenn ihr eure Teile zuschneidet?

Immer wieder höre ich Klagen, dass bei dem einen oder anderen Schnittmuster die Teile nicht zusammenpassen. Die Größen hauen überhaupt nicht hin, sagen manche. Dann schaue ich aber genauer hin und stelle fest: das liegt gar nicht am Schnittmuster, sondern an der vergessenen Nahtzugabe. Viele denken leider, diese könne man weglassen.

Die Nahtzugabe – wie wichtig ist sie?

Laut Wikipedia versteht man 

… unter der Nahtzugabe … beim Zuschneiden von Textilien die Breite des Abstandes zwischen der eigentlichen Naht und der Schnittkante…”, also das, was nach dem Zusammennähen innen noch sichtbar ist.

Nun haben wir ja bei Schnittmustern, die die Schnittlinien für viele Größen auf einem Bogen haben, ein furchtbares Liniengewirr. Da ist es schon eine Aufgabe, die richtige für meine benötigte Größe zu finden. Bei vielen Schnittmustern – hauptsächlich bei Ebooks – ist die Nahtzugabe bereits enthalten, d.h. ich schneide das Schnittteil aus Papier aus, lege es auf den Stoff und schneide direkt drum herum – fertig ist mein Schnittteil. Ein Zugeständnis an die vielen unter uns, die es schnell und einfach haben wollen.

In der professionellen Schneiderei ist die Nahtzugabe bei den Schnittmustern meistens jedoch nicht enthalten und muss individuell zugegeben werden. Wer noch nicht viel Übung hat, zeichnet also erst die Nahtlinien anhand des Papierschnittteils auf den Stoff und misst dann mit einem Lineal ringsrum die Nahtzugabe von einem bis anderthalb Zentimeter ab und zeichnet eine zweite Linie, auf der dann ausgeschnitten wird. Zeitaufwendig, aber absolut korrekt.

Worauf ihr beim Zuschneiden achten müsst

Viele werden denken: ich habe auf dem Bogen doch sowieso viele Linien nebeneinander. Dann kann ich doch eigentlich, wenn ich das Shirt in Größe 40 nähen möchte, in Größe 42 zuschneiden, dann wird es beim Zusammennähen von selber eine 40 und ich spare einen Arbeitsschritt und somit die Nahtzugabe.” Leider falsch und bitte nicht so denken und handeln.

Wenn man ein Shirt aus 2 Teilen näht, mag es vielleicht noch gerade so hinhauen. Jersey verzeiht viel, 2 Teile brauchen keine großartige Passform. Aber bitte: schneide niemals einfach ein Teil eine Nummer größer zu, um das Anzeichnen der Nahtzugabe zu sparen oder eine andere Größe zu erreichen!

Hier ein Beispiel, wie fatal sich das Weglassen der Nahtzugabe auswirken kann:

Man sieht sehr deutlich, dass die vorderen Schnittteile unterschiedlich lang sind. Das Oberteil ist insgesamt zu kurz, hinten ist es viel zu schmal und passt überhaupt nicht zusammen – TFT – Teil für die Tonne!

Nun nochmal derselbe Schnitt, dieselbe Größe mit exakt eingehaltener Nahtzugabe:

Hier bildet die Vorderseite ein harmonisches Ganzes. Die leichten Unterschiede in der Länge verschwinden, sobald das Rockteil angenäht wird. Die hintere Linie für den Reißverschluss läuft parallel. Sie überlappt hier nicht, weil Trudi leider etwas breiter ist als die spätere Trägerin. Das ist die Passform, die der Schnitthersteller haben wollte.

Warum ist das so? Wo ist der Unterschied?

Um das zu verdeutlichen, habe ich mal ein paar einfache Schemazeichnungen gemacht.

So sieht es aus, wenn ich ringsum eine Nahtzugabe zugebe. An jeder Kante wird in der Regel gleich viel zugegeben.

Tipp

Es ist in jedem Schnittmuster vermerkt, ob die Nahtzugabe bereits enthalten ist oder wieviel noch zugegeben werden muss. Meistens ist es so, dass z. B. an der unteren Kante mehr Nahtzugabe zugegeben werden muss. Also nachlesen!

Nun habe ich noch eine Zeichnung gemacht, die den Unterschied von einer Größe zur nächsten zeigt – schematisch, aber es verdeutlicht den Effekt (rote Pfeile):

  • Die Länge ist geblieben – Effekt: das Shirt wird kürzer als beabsichtigt, weil ich ja unten nichts zum Umklappen zugegeben habe.
  • Die Breite ist nahezu größengerecht verbreitert – Effekt: da kommt es noch am ehesten mit der Passform hin. Aber nur hier, weil es eine gerade Linie ist. Anders sieht es aus, wenn im Schnittmuster eine leicht geschwungene Seitennaht vorgesehen ist.
  • Der Armausschnitt setzt in der gleichen Höhe an, hat aber eine andere Tiefe (klar, größere Größe = mehr Armumfang) – Effekt: der Ärmel passt nicht mehr genau in die Ärmelkugel.
  • Die Schulternaht ist wesentlich höher als in der Nummer kleiner – Effekt: der gleiche wie beim Armausschnitt.
  • Der Halsausschnitt ist nicht proportional größer – Effekt: auch am Hals passt es nicht zusammen.

Die Zeichnungen sind schnitttechnisch nicht perfekt, aber sie verdeutlichen den Effekt: die Schritte zwischen den Größen laufen nicht zwangsläufig proportional, was auf die Nahtzugabe aber zutrifft und auch wichtig ist.

Mach dir mal die Mühe und vergleiche bei einem deiner Schnittmuster zwei nebeneinanderliegende Größen. Dann wirst du feststellen, dass die Linien nicht überall parallel laufen, sondern sich sogar zu Teil überschneiden. Sehr deutlich kann man das am Ärmel erkennen.

Wenn du also ein Teil nähen möchtest, was hinterher auch passt, tu dir selbst den Gefallen und schneide immer mit Nahtzugabe zu!

Mein Tipp

Wenn du es dir einfacher machen möchtest und lieber Schnittteile mit bereits zugegebener Nahtzugabe haben möchtest, zeichne vor dem Ausschneiden der Papierteile einfach selbst die Nahtzugabe ein, dann hast du Schnittteile mit Nahtzugabe, die auch wirklich passen.

P.S.: Dasselbe gilt natürlich auch für den umgekehrten Weg: Wenn du fürchtest, das Teil könnte zu schmal werden, kannst du nicht einfach statt der geforderten 1,5 cm mal locker 3 cm Nahtzugabe zugeben. Auch dadurch verliert der Schnitt seine Passform und es passt hinterher nicht richtig.